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Thorsten Krämer

Nicolas Born

I.

Hung-min sitzt auf meinem Schoß und beißt mir ein Ohr

ab. Draußen Stille. Später (ist es schon Abend?) ein

Klingeln an der Tür, Besuch. Sie nimmt den Hörer der

Gegensprechanlage ab, meldet sich. Es ist Joachim

Lottmann, der jetzt in Köln wohnt. Während er die

Treppen hochsteigt, wischen wir das getrocknete Blut auf,

er soll nichts merken, sonst schreibt er darüber, da muß

man vorsichtig sein. Da ist er schon. Wir beginnen zu

reden, er erzählt von seinem neuen Buch, von Berlin, von

der Einheit, Hung-min würde jetzt lieber von Gott

sprechen, sie hat diesen Ausdruck im Gesicht. Die ganze

Zeit halte ich verlegen die Hand an die Stelle, wo vorher

das Ohr war. Früher oder später wird er es doch merken,

sage ich laut und nehme die Hand runter, die Wunde

wird sichtbar, unserem Gast stockt der Atem. Naja, halb

so schlimm, versuche ich Aufmunterung, geht fehl. Du

meine Güte, sagt Joachim, wie ist das passiert, wir

erklären es ihm. Das ist ja phantastisch, ruft er, darüber

werde ich schreiben. Nein, entgegne ich, das wirst du

nicht. Aber, widerspricht er, so eine Geschichte - Nein,

wiederhole ich, du wirst kein Wort darüber schreiben, weil

nämlich ich darüber schreiben werde, schließlich war es

mein Ohr. Schon gut, schon gut, beschwichtigt er, schreib

du mal, dann sehen wir weiter. So vergehen die Tage.

II.

Kalt jetzt, spät. Wir haben Hunger, aber nichts im Haus.

Laß uns doch essen gehen, schlägt Hung-min vor. Nein,

zu kalt jetzt. Oktober. In der Nacht wache ich auf, ein

solcher Lärm ist draußen im Hof, wie Ausschütten von

Container, am liebsten riefe ich die Polizei. Kann nichts

sehen, nichts erkennen, diese Schweine, denke ich,

mitten in der Nacht so ein Lärm. Am Morgen erzähle ich

davon, und Hung-min lächelt. Das war doch nur der

Wind. Die Plane dort am Haus. Und darum so ein

Aufstand. Ein Glück nur, daß nicht die Polizei . . . Dann

Frühstück, letzte Reste. Was machen wir heute, waschen

wir das Auto oder haben wir gar keins. Du, ich muß

arbeiten. Schreiben. Oder nein: später schreiben. Erst

spazieren, dabei oft stehenbleiben, oft bücken, Blätter

aufheben, Bäume erkennen, wieder zu Hause sitzen und

warten, ich nenne das dann: Selbstporträt des Glücks als

blitzende Herbstmaschine. Hier abbrechen.

III.

Noch paar Liebesworte flüstern, schnell noch mal

rumdrehen. Halb acht. Auf den abgebrochenen Tag folgt

die abgebrochene Nacht, Schlaf in den Augen, reiben tut

nicht gut, tut weh. Wer hat jetzt schon Brötchen, wer hat

Lust zu leben? Geschäftigkeit, fahrige Gesten, Husten.

Ich hatte einen Traum von einem Osterkonzert: Ein

Freund spielte auf einem billigen Casio, sein Vater

improvisierte auf einem elektrischen Kontrabaß. Obwohl

ganz schlank, fiel der Baß immer um, weil er so schwer

war. Der Vater konnte ihn gar nicht halten. Alles spielte in

der Natur. Es war sehr traurig, aber auch lustig. In einem

anderen Traum lebte ein Tier unter meinem Bett, eine Art

Windhund. Ich war noch ein Kind und fürchtete mich,

meine Eltern mußten mich trösten. Das Tier war dann

auch recht lieb, nur nicht ganz normal, keiner bekannten

Rasse zugehörig. Jemand den ich nicht kannte schrieb:

Das Erscheinen eines jeden in der Menge, ich kenne das

nicht, versuche nur, es mir vorzustellen. Etwas wovor

man sich fürchtet, was, wie ich mir denke, vielleicht mit

Bahnhöfen zu tun hat.

IV.

Es ist vier Uhr morgens, Ende November, ich schreibe

Dir nur um zu sehen, ob's Dir besser geht. Köln ist kalt,

doch mir gefällt wo ich wohne. Die Musik von einer alten

Platte läuft im Hintergrund, ich kann sie kaum hören. Den

Abend gestern verbrachte ich sitzend. Die dunkle Fläche

Jetzt draußen vor dem Fenster, vielleicht sollte ich

"lach richten gucken, etwas lesen, einfach lange auf der

Toilette bleiben. Ich möchte in einem Zug sitzen, der

mich hierhin bringt. Im Abteil einem Fremden von zu

Hause erzählen, die angebotene Zigarette dankend

ablehnen. Es wäre ein nettes Gespräch. Später, bei der

Ankunft, würde er alleine weiterfahren und mich noch

zwei Stationen vermissen. Mindestens. Einmal im Monat

sollte ich diese Stadt verlassen und dann zurückkehren,

wenn Du weißt was ich meine. Was ist denn aus Birgit

geworden? Nur eine Frage, eigentlich interessiert es mich

nicht. Du findest das vielleicht schade, ich nicht. Das

Verschließen der Augen um diese Zeit ist ein häufiger

Vorgang, mit Innenschau hat das wenig zu tun, welches

Innen? Die äußere Welt; Worte, Worte. Bin ich noch Dein

Freund. Ich schreibe Dir besser ein anderes Mal.

V.

Bücher, Filme, Platten: die Leben Anderer, Geister, eine

Sammlung von Ungeheuerlichkeiten, düstere Testamente

und Schicksalssprüche, oder Ahnenkult: Das Weitersagen

des Unglücks. Um einem andern Mut zu machen erst die

eigene Misere zeigen, und daß man selber trotz allem . . .

Daß dann die Freude eine stille, die Hoffnung eine feste,

usw. Wo hören die Effekte auf und was fängt dann an. Im

Lande der gemachten Dinge gibt es nur gemachte

Ehrlichkeit. Ehrlich. Was man am liebsten gar nicht

wissen will. Am liebsten sind mir die, die selbst nicht

wissen, was sie nicht verstehen. Die haben einen klaren

Kopf und wissen wie man anfängt. Mir fallen immer nur

letzte Worte ein, und selbst die sind geklaut: (von vorne)

VI.

Hung-min schläft. Wieder dieses Bild, die schlafende

Frau und der schreibende Mann, als ob alles zur Ehre

der Frau im Verborgenen entstünde, große Kultur. I had

it ready for them when they awoke oder You're gonna.

wake up in the morning with a crowd round your bed.

Wer jetzt nicht singen kann hat's schwer. Muß sitzen,

lange Briefe schreiben, sie falsch adressieren und zu

einem Verlag bringen. Bei Lesungen dann heimliche

Widmungen verschweigen: nur nicht selber sprechen,

alles in den Werken. It's a labour of love, noch so ein

Lied. Mein Schatz ist daß ich dies verstehe: wer ich bin

und was ich tue, eine Spur zu genau. Endlich.

VII.

Lieber Herr Born,

haben Sie vielen Dank für Ihre Zeilen, die mich

nach all der Zeit nun heute morgen erreicht haben.

Gelegentlich gelingt mir Gelassenheit, dann ging es mir

in letzter Zeit nicht gut, und so freue ich mich,

Ihre Handschrift zu lesen.

Ich freue mich sehr.

Köln, Oktober/November 1995

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